Den Jungen ein Vorbild sein – Kostbarkeit und Aufgabe des Alters

Es gibt ein chinesisches Sprichwort, das da lautet: „Einen alten Menschen im Haus zu haben ist wie einen Schatz zu besitzen!“ Das ist ein durch seine tiefe Weisheit beeindruckender Spruch, der nicht nur für China gilt, sondern für das ganze Menschentum. Nun muß man aber einwenden, daß die besten Weisheiten der Vorfahren wirklich nur dann von Nutzen sind, wenn sie auch verstanden und angewendet werden. Und hier liegt wiederum gleich der Hase im Pfeffer verborgen:  Ist es nicht so, daß die Aussage dieses Spruches nicht mehr allgemein so gefühlt und nachvollzogen wird? Woran könnte das liegen? Man mag jetzt sagen, es liegt daran, daß eben alles schlechter wird, am Lauf der Zeit, an der Gedankenlosigkeit der Menschen, dem ständigen Zeitmangel und Dauerstress der Leute und schließlich der Jugend, die das nicht mehr begreifen will. Nun, man kann das Ganze auch einmal von einer anderen Seite betrachten. Liegt es nicht vielleicht daran, daß selbst unsere Alten von heute diese Gesetzmäßigkeit nicht mehr richtig verstehen, somit es auch ihren Kindern nie beigebracht haben? Ein alter Mensch –  das ist kein nutzloses Überbleibsel oder eine pflegeintensive Altlast. Nein! Ein alter Mensch – er ist das Kostbarste was unsere Gesellschaft überhaupt hervorbringen kann, die Ernte am Baum des Lebens mit seinen mannigfaltigen Früchten von Lebenserfahrung, Tugend, geistiger Bildung, Weisheit und liebevoller Güte. All diese großartigen Werte und Eigenschaften finden wir doch recht wenig unter den jungen, noch vom Jugendwahn gefangenen, von sinnlichen Lüsten getriebenen, von Geld- und Machtwahn vor den Pflug gespannten und vom Zeitgeist der Medien angepeitschten Menschen. Wehe ihnen, wenn sie die Nähe zu den Alten, die das Bindeglied zu den Altvorderen und dem gesamten Weisheitsschatz der Menschheit darstellen, verlieren. Und sei es in der Gestalt der tröstenden Großmutter, des mahnenden Großvaters, der weisen Rat spendenden Großtante und des auch in unruhigsten Zeiten nie die Geduld verlierenden Großonkels. Wichtig ist, daß die Alten selbst sich ihres Auftrages für die junge Generation bewußt werden, sie sich also auch verstärkt selbst schätzen lernen und durch die Selbstachtung eine Vorbildfunktion für die Jugend übernehmen. Auch wenn die körperlichen und geistigen Fähigkeiten im Alter nachlassen und sogar Pflege notwendig sein mag, ist doch der kostbarste Lohn für den, der die Pflege übernimmt, der Kontakt zum alten Menschen, der ihm sein junges Leben ungemein bereichern kann. Ein leuchtendes Beispiel aus der buddhistischen Tradition ist uns der Ehrwürdige Kassapa, der auch im hohen Alter immer noch an der strengen asketischen Übung festhielt, obwohl sie von den Mönchen nicht im Allgemeinen erwartet wurde. Als der Buddha ihm nahe legte, aufgrund seines vorangeschrittenen Alters, sich in seiner Askeseübung etwas Erleichterung zu erlauben, lehnte dieser jedoch aber, da er sich seiner Vorbildfunktion für die jungen Menschen bewußt war. Im Bambushain-Kloster sprach der Buddha zu ihm: „Kassapa, du bist alt geworden. Für dich sind die alten, schäbigen Lumpen lästig. Trage doch von Laien geschenkte Mönchsgewänder, nimm Einladungen zum Essen an und wohne in meiner Nähe!“ Kassapa ging nicht darauf ein mit der Begründung, er sei das Waldleben, das Tragen von Lumpenkleidung und den täglichen Almosengang nun einmal gewöhnt, ab. „Warum willst du denn daran festhalten?“ fragte der Buddha. „Aus zwei Gründen“, erwiderte Kassapa, „erstens weil es mir so bequemer ist, und zweitens tue ich es wegen der Nachwelt; ich will den kommenden Geschlechtern ein gutes Vorbild geben.“ Nachsichtig ließ der Buddha dies gelten: „Wenn du es wegen der Nachwelt tust, dann bleibe nur dabei!“ 1

Autor: Bhikkhu Thitadhammo

erschienen in: Zeitschrift der Seniorenpflege Haus Corbinian, Freising, Ausgabe Okt.-Dez. 2012

1 Vgl. Dr. Hellmuth Hecker, Die Jünger Buddhas. Leben, Werk und Vermächtnis der vierundzwanzig bedeutendsten Schüler und Schülerinnen des Erwachten.O.W. Barth (2000), S.148

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